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Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)

presseartikel1982-09-02 → Regelwerk für die Orthographiereform
ortografie.ch ersetzt sprache.org ortografie.ch ersetzt in zukunft sprache.org

Basler Zeitung, , nr. 204

Regelwerk für die Orthographiereform

Auszählungen haben ergeben, dass 40 Prozent der Fehler in der deutschen Rechtschreibung die Substantive betreffen. Deshalb der alte Wunsch nach Vereinfachung der Regeln von Gross- und Kleinschreibung in Richtung auf eine Annäherung an die Bräuche in anderen europäischen Sprachen. Im Juni fand in Wien eine Tagung statt, die mit diesem Ziel eine bedeutende Reduktion der Zahl der noch zu beachtenden Regeln erreichte. Welche Überlegungen waren massgebend? Wie geht es weiter?

Der Dauerbrenner Orthographiereform hat in der jüngsten Zeit wieder neue Nahrung erhalten, weil 1. die Presse schon im Frühjahr mitzuteilen wusste, es stehe eine wissenschaftliche Tagung der Kleinschreiber bevor, 2. diese unterdessen stattgefunden hat, vom 16.–18. Juni in Wien, und weil 3. im August ein Sprecher des «Zentralinstituts für Sprachwissenschaft» in der DDR in einem Interview erklärt hat, sein Land plane in absehbarer Zukunft die gemässigte Kleinschreibung einzuführen. So haben denn in den verschiedensten Zeitungen des In- und Auslands die Befürworter und die Gegner einer Reform ihre längst bekannten Argumente aufs neue vorgelegt, und auf diese sei hier eingegangen.

Die Befürworter fassen mehrere Neuerungen ins Auge:

1. Die Substantive sollen klein geschrieben werden. Gross geschrieben werden nur noch die Satzanfänge, die Eigennamen, die Anredefürwörter («Sie» als 2. Person und sie als 3. Person sollen unterscheidbar sein), das Wort «Gott».

2. Die Satzzeichen sollen, ohne ihre gliedernde Funktion zu verlieren, vereinfacht werden.

3. Auch die Regeln der Silbentrennung sollen handlicher werden.

4. Die Getrennt- und Zusammenschreibung bedarf einer klareren Regelung.

5. Die Schreibung der Fremdwörter soll vereinfacht werden.

Warum eine Reform?

Gestritten wird nur um die Gross- und Kleinschreibung der Substantive; alle andern Reformen gelten allgemein als wünschbar. Im jetzigen Zeitpunkt sind erst die Regeln für eine gemässigte Kleinschreibung der Substantive fertig ausgearbeitet. Der Versuch der Gegner, eine vereinfachte Grosschreibung gegenüberzustellen, soll kurz vor dem Abschluss stehen. Die andern Reformpunkte sind noch in Bearbeitung.

Was will die gemässigte Kleinschreibung der Hauptwörter? Sie erstrebt eine Angleichung an den Brauch, der für alle andern europäischen Sprachen gilt. Man stolpert im Deutschen über so merkwürdige Vorschriften wie radfahren – ich fahre Rad, recht haben – im Recht sein, wir haben im allgemeinen schönes Wetter – im Allgemeinen stimme ich zu, im Besonderen habe ich Einwände, abends – des Abends usw. Als die Geplagten gelten vor allem die Schüler, auch ihre Lehrer. Unwahrscheinlich viel Zeit wird in der Schule dafür beansprucht, eine Regelpaukerei durchzuziehen, deren Bildungsertrag gleich null ist.

Nach genauen Auszählungen betreffen gegen 40 Prozent aller Rechtschreibfehler die Substantive; das drückt auf die Deutschnote und kann im ungünstigen Fall sogar über Beförderung oder Sitzenbleiben entscheiden. Es ist somit ein soziales Argument, das die Kleinschreiber vor allem ins Feld führen, nur muss man dieses nicht auf die Schule beschränken. Wer als Erwachsener mit der Orthographie auf Kriegsfuss steht, gilt vielen als unterbegabt und erntet neben Geringschätzung nicht selten beeinträchtigte berufliche Aufstiegsmöglichkeiten.

Wäre Mut eine verbreitete Tugend, so liesse sich der Übelstand auf einfachste Weise mit Stumpf und Stiel ausrotten, durch die totale Kleinschreibung nämlich. Aber eine solche Radikalkur würde weder von der breiten Öffentlichkeit noch von den Politikern angenommen. Darum die gemässigte Kleinschreibung als mittlere Lösung!

Bevor ich auf die Argumente der einander bekämpfenden Parteien eingehe, sei ein nicht abzustreitender Vorteil der gemässigten Kleinschreibung genannt: Sekretärinnen sparen – die hohe Zahl überrascht – 20 Prozent Arbeitszeit ein, wenn sie Texte in gemässigter Kleinschreibung zu tippen haben.

Einwände der Gegner

Zunächst seien hier die wichtigsten Bedenken der Reformgegner zusammengefasst:

1. Das Schriftbild wird hässlich, ja es wird gelegentlich von einem drohenden Sturz in die Kulturbarbarei gesprochen.

2. Die Lesbarkeit der Texte wird erschwert.

3. Zeitüberdauernde Bücher, also vor allem Klassikertexte, müssten mit einem Aufwand ungezählter Millionen neu gesetzt und gedruckt werden.

4. Die Grosschreibung der Substantive, die seit über dreihundert Jahren besteht, hat in unserer Sprache Besonderheiten der Syntax, insbesondere der Wortstellung, ermöglicht; Beispiel: der Liebe Frühling. Wird daraus der liebe frühling, so führt das den Leser zunächst in die Irre. Auch ohne syntaktisch auffallendes Merkmal kann eine Aussage doppeldeutig werden: Der gefangene floh.

Sehen wir uns diese Argumente der Kleinschreibgegner näher an! Zu 1: Dass deutsche Drucke für das Auge gefälliger sind als französische oder englische, weil Kleineres und Grösseres in anmutigem Wechsel über die Zeilen verteilt ist, trifft zu. Ob jedoch die Sprachgemeinschaft derer, die deutsch schreiben und lesen, bei einer Reform der Barbarei anheimfiele, darf angezweifelt werden. Bestünde diese Gefahr, so müssten wir eilends nach Paris, London, Rom, Madrid, ja in die halbe Welt reisen, um unsere orthographischen Brüder anderer Zunge dem Abgrund zu entreissen, in dem sie seit Urzeiten kulturlos schmachten.

Zu 2: Nur Experimente, die sich über längere Zeit erstrecken, können erweisen, ob Texte in gemässigter Kleinschreibung schlechter lesbar sind oder nicht. Im Beginn einer Umstellung lesen zwar nicht alle langsamer, aber doch recht viele. Experimente haben gezeigt, dass nach längerer Eingewöhnung dieser Nachteil entfällt, und nur Unkenntnis erwiesener Tatsachen kann an der Behauptung erschwerter Lesbarkeit festhalten.

Zu 3: Das eben Gesagte ist umkehrbar: Texte in Grosschreibung werden so lesbar bleiben wie bisher. Also sind Neudrucke unnötig.

Zu 4: Als vor beinahe zwanzig Jahren die Schweiz als einziges deutschsprachiges Land die Kleinschreibung ablehnte, war daran nicht nur die undemokratische Zusammensetzung der Kommission schuld, die aus fast lauter Gegnern der Neuerung bestand, sondern ein bestechendes Papier, das der damalige Zürcher Germanist Professor Hotzenköcherle vorlegte. Ein gutes halbes Hundert von Wortgruppen, das er in Kleinschrift wiedergab, erwies sich als doppeldeutig, so die schon erwähnte Wortfolge der liebe frühling. Das hinterliess einen bedenklichen Eindruck. Doch Herrn Hotzenköcherle war ein methodischer Fehler unterlaufen. Hätte er seine Beispiele in einen grösseren sprachlichen Zusammenhang gestellt, wäre jede Zweideutigkeit entfallen.

Keine Allmacht der Gewohnheit

Es sind seither dicke Bücher daraufhin geprüft worden, ob die gemässigte Kleinschreibung Verwirklichkeiten dieser Art mit sich bringe. Auf mehr als tausend Seiten kam nicht ein einziges Hindernis vor, und ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass ich mich nicht erinnern kann, in den ungezählten kleingeschriebenen Texten, die ich bisher zu lesen bekommen habe – viele mit Dichterzitaten durchsetzt –, je gestolpert zu sein. Würde die Zeit, die in der Schule für das einpauken der spitzfindigen Orthographie aufgewendet wird, für die Bekämpfung wirklicher und auch häufiger Quellen der Unklarheit in Texten eingesetzt, so wäre viel gewonnen, zumal damit eine Schulung des klaren Denkens einherginge.

Es bleibt noch darauf hinzuweisen, dass Dänemark vor fünfunddreissig Jahren den Übergang zur gemässigten Kleinschreibung vollzogen hat. Von den einstigen Gegnern sind heute so gut wie alle bekehrt und möchten die gewonnenen Vorteile nicht mehr preisgeben. So schnell und schmerzlos lassen sich an der Oberfläche der Dinge liegende Gewohnheiten durch andere Gewohnheiten ersetzen. Wer aber seinerzeit bei der altern Schreibweise bleiben wollte, durfte das tun und darf es heute noch tun.

Der Schweizer kennt eine gleichartige Erfahrung. Bei uns ist das sz (geschwänztes s) seit Jahrzehnten durch ss ersetzt, und wir lachen unsere sprachlichen Nachbarn aus, die sich immer noch mit unsäglichem Aufwand die Köpfe darüber zerbrechen, wie man mit diesem törichten Zeichen praktischer umgehen könnte. Niemand bei uns sehnt sich nach dem geschwänzten s zurück, obwohl zugegebenermassen Masse und Masze eine bequeme Unterscheidung ist.

Streitpunkt Eigennamen

Das eigentliche Kampffeld von Gegnern und Freunden der Reform habe ich bisher ausgespart. Die eingangs erwähnte Tagung in Wien, an der Wissenschafter aus der Bundesrepublik, der DDR, Österreichs und der Schweiz teilnahmen, hatte sich vor allem mit der heikelsten Schwierigkeit bei der Kleinschreibung der Substantive zu befassen, mit den Eigennamen. Nehmen wir an, ein Gasthof heisse Alpenrose, ein anderer Hotel Alpenrose. Dann schreibt man im einen Fall: Wir sind im hotel Alpenrose abgestiegen, im andern im Hotel Alpenrose. Das ist einsehbar, wenn auch recht spitzfindig. In vielen Fällen gerät man jedoch in eine Nebelzone.

Die Tagung hat entschieden, die Bezeichnung Internationales Olympisches Komitee sei ein Eigenname, Weihnachten jedoch keiner, also weihnachten. In diesen beiden wie in andern Fällen musste zwischen zwei Möglichkeiten, deren jede etwas für sich hatte, entschieden werden. Es ist so ein Regelwerk zustandegekommen, dem in manchen Fällen diskutable, stets jedoch vertretbare und sorgfältig erwogene Entscheide zugrundelagen. In jahrelanger, zäher wissenschaftlicher Arbeit hatte man zuvor in Arbeitsteams der BRD, der DDR und Österreichs an der Sache gearbeitet, und in Wien konnten ohne Ausnahme die letzten Differenzen bereinigt werden.

Man muss zugeben: weil die Grenze zwischen Eigennamen und Nichteigennahmen fliessend ist, sind Vorschriften entstanden, die kaum befriedigender sind als der heutige Unterschied zwischen radfahren und ich fahre Rad. Die Grosschreiber sprechen denn auch schadenfroh davon, der eine Komplex von Schwierigkeiten sei gegen einen andern ausgewechselt worden. Sie verschweigen damit, dass die Zahl der Regeln bedeutend kleiner geworden ist und dass insbesondere die Zahl der Anwendungsfälle in der Praxis um ein Vielfaches abnimmt. Entsprechend werden die Fehlerquellen in Diktaten und Schulaufsätzen vermindert.

Politiker entscheiden

Es bleibt dennoch ein Unbehagen, aus den folgenden zwei Gründen:

1. Da jetzt die Kleinschreiber die von den Politikern längst geforderte wissenschaftlich bis zum möglichen Optimum abgesicherte Regelung vorlegen können, kann ihr Vorschlag nunmehr Gegenstand internationaler Beratung und Entscheidung auf politischer Ebene werden; denn ohne politische Beschlüsse ist keine Reform denkbar. Wenn nun Minister und ihre Chefbeamten das bisherige und das neu vorgeschlagene Regelwerk miteinander vergleichen, werden ihnen die Vorteile des neuen nicht in die Augen springen, sondern sie werden wiederum komplizierte und nicht ohne weiteres einsehbare Unterscheidungen entdecken. Ob das ihre Bereitschaft beflügeln wird, der Neuerung zuzustimmen, ist fraglich, besonders wenn man den beneidenswerten Kampfeifer der Gegner bedenkt, die dann überall auf den Plan treten werden.

Es wird darauf ankommen, wie weit die Fähigkeit der Politiker geht, auf die Argumente der einander gegenüberstehenden Experten in sachlicher Unvoreingenommenheit einzugehen. Wer kann das wissen! Der schweizerische «Bund für vereinfachte rechtschreibung» drängt deshalb darauf, dass ein wesentlich vereinfachtes Regelwerk, das sich ohne grosse Mühe bereitstellen liesse, dem umfangreicheren beigegeben werde. Das feinmaschige würde dann für die am nächsten betroffenen Berufsleute gelten, also vor allem für Zeitungen, Verlage, das Druckgewerbe, während das einfachere und menschenfreundlichere den Schulen und dem Mann auf der Strasse vollauf genügen würde.

Noch ein Wort zu der Mitteilung aus der DDR, die dortigen Regierungskreise wollten die gemässigte Kleinschreibung der Substantive einführen. Es spricht weniger dafür, dass sie das schon bald im Alleingang tun werden, sondern es steht vielmehr zu vermuten, dass diese Absichtserklärung die Tür zu internationalen Vereinbarungen offen lässt. Mit aller Deutlichkeit sei hier festgehalten, dass es sich bei der Orthographiereform entgegen der Meinung einzelner Leute in keiner Weise um einen Streitfall zwischen Rechts und Links handelt, sondern um eine reine Sachfrage, für welche nicht das Parteiheft, sondern allein die Vernunft zuständig ist.


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